Konsens als radikale Kultur von Wertschätzung, Kontakt und Verletzlichkeit
Konsens wird als Methode von vielen Menschen angewendet, die Mehrheitsdemokratie für zu wenig selbstbestimmt halten und sich Hierarchiearmut wünschen. Ich möchte hier ein Plädoyer dafür halten, Konsens nicht als eine Methode zu betrachten, sondern als Lebenseinstellung und Kultur, die es aufzubauen und zu pflegen gilt. Dafür ist es zunächst einmal wichtig, Konsenskultur von der Kompromisskultur abzugrenzen.
Ein Kompromiss heißt, dass alle Beteiligten Abstriche machen, um sich zu einigen. Dabei wird meist von niemandem die bevorzugte Variante oder Lösung erreicht, sondern es wird ein „Mittelweg“ angestrebt, bei dem die verschiedenen Wünsche/ Bedürfnisse als Pole gesehen werden, die den Raum, in dem die Mitte gefunden werden soll, begrenzen. Alle Beteiligten sind mit der letztendlichen Lösung nur mäßig zufrieden, können aber damit leben.
Abstriche zu Gunsten anderer zu machen wird dabei meist als etwas Positives angesehen, auf seinen eigenen Bedürfnissen zu beharren hingegen als egozentrisch, unsozial oder dominant interpretiert, weil dadurch „die Mitte“ zugunsten einer Person oder Position verschoben wird und die andere Person/ Position weniger bekommt.
Als „gerecht“ wird dabei angesehen, wenn alle gleich viel zurückstecken müssen. Das Konzept sieht vor, dass keine der beteiligten Parteien ihre Wünsche und Bedürfnisse erfüllen können. Dies führt langfristig fast immer zu Unzufriedenheit und Missgunst oder zu dem Gefühl, bzw. der Erfahrung, sich gegen die anderen verteidigen zu müssen, um nicht zu kurz zu kommen. Der Wunsch nach sozialer Anerkennung und das Bedürfnis, den eigenen Wunsch oder das eigene Bedürfnis zu befriedigen stehen hier außerdem permanent in Konkurrenz zueinander.
Wenn die Bedürfnisse anderer dadurch erfüllt werden, dass die eigenen nicht erfüllt sind, wird es irgendwann schwer fallen, den anderen die Erfüllung ihrer Wünsche zu gönnen. Andersherum kann der erfüllte Wunsch nicht voll genossen werden, wenn gleichzeitig klar ist, dass andere deswegen neidisch sind oder zähneknirschend Abstriche machen mussten. Zwangsläufig entsteht so ein tiefer Konflikt, denn so gibt es keine Möglichkeit, dass jemand Bedürfnisse und Wünsche voll erfüllt sieht und sich gleichzeitig wohlwollend betrachtet fühlt, während es ihm oder *ihr gut geht.
Im Gegenteil: Je „besser“ es einer Person geht, desto mehr hat sie in den „Verhandlungen“ gewonnen, sich also „egoistisch“ verhalten. Sie zieht damit gleichzeitig soziale Sanktionen auf sich, durch die sie ihr Wohlergehen nicht mehr genießen kann oder dieses eingeschränkt wird. Je schlechter es jemandem im Gegenzug geht, je mehr jemand seine eigenen Bedürfnisse zurücksteckt, desto „sozialer“ ist diese Person in dieser Logik. Dass es letztendlich nicht besonders förderlich für ein soziales Gefüge sein kann, wenn eine oder mehrere Personen sich so verhalten, dass sie sich anderen gegenüber unterlegen oder übervorteilt fühlen, wird dabei nicht berücksichtigt.
Oft ist dann die implizite oder explizite Forderung, die anderen mögen sich auch mehr zurücknehmen und auch weniger Bedürfnisse äußern oder gar haben, um so die Situation zu verbessern und das vermeintliche Gefälle wieder auszugleichen. Das ist logischerweise der Einstieg in eine Abwärtsspirale von misstrauischer Beäugung und Engegefühl, in der es irgendwann zur Explosion kommen muss, wenn das Maß der erträglichen Einschränkung erreicht oder überschritten ist. Das Konsensprinzip mit einer Kompromisskultur-Haltung ausüben zu wollen macht es zu nicht mehr als zu einer komplizierteren Abstimmungsmethode.
Ein radikal anderer Weg
Konsenskultur ist ein radikal anderer Weg. Konsens ist hier der Versuch, unter Freien und Gleichwertigen alle Bedürfnisse möglichst optimal zu berücksichtigen. Verschiedene Bedürfnisse oder Wünsche sind nicht per se in Konkurrenz zueinander, sondern Teile eines noch zu gestaltenden gemeinsamen größeren Bildes, in dem vieles Platz haben kann. Dahinter steht der Wunsch, dass es allen Beteiligten maximal gut geht und sie sich maximal gehört, gesehen, verstanden und wohlwollend behandelt fühlen sollen. Dazu gehören die Fähigkeiten, sich seiner Bedürfnisse bewusst zu werden, sie zu kommunizieren und für sie einzustehen. Außerdem gehört auch dazu, gut zuzuhören und zu akzeptieren, dass die Bedürfnisse der anderen Beteiligten genauso wichtig sind wie die eigenen, aber eben auch nicht wichtiger.
Dazu gehört unter Umständen auch die Bereitschaft, die eigenen Bilder davon, wie eine Lösung aussehen soll, immer wieder los zu lassen, um in Übereinstimmung mit den eigenen Bedürfnissen Wege zu finden, dass die Bedürfnisse der anderen auch erfüllt werden können. Hilfreich ist Selbstkenntnis, um unerwartete Möglichkeiten und auch die Bedürfnisse hinter den Wünschen zu finden, sowie die Bereitschaft, sich selbst und die eigenen Motive transparent zu machen.
In der Konsensfindung sind die ursprünglichen Wünsche oder Positionen keine Begrenzung sondern ein Startpunkt. Man zerlegt die Wünsche und Bedürfnisse in immer genauere Bausteine, um dann aus dem entstandenen großen Puzzle eine Lösung zusammenzubauen, die möglichst viele der Bausteine enthält. Im Prozess der Verhandlung werden die Perspektiven weiter und vielfältiger, statt enger. Statt um verschiedene Bedürfniserfüllungsstrategien zu streiten, geht es um das Erschaffen einer gemeinsamen Strategie, in der möglichst alle Bedürfnisse erfüllt werden. Wenn wir uns als Partner*innen betrachten und ernst nehmen, deren gemeinsames Ziel es ist, eine für alle Beteiligten gute Lösung zu finden, entstehen manchmal neue Wege, die niemand vorher erahnen konnte.
Für eine Konsenskultur ist es sogar schädlich, sich selbst zu sehr zurückzunehmen. Wichtige Bedürfnisse nicht zu äußern, macht es anderen schwer bis unmöglich, die Bedürfnisse aller bei der Erarbeitung einer Lösung mitzudenken. Die Konsensfindung dauert dadurch länger, wird sogar unmöglich oder die entstehenden Unzufriedenheiten führen zu Konflikten in anderen Bereichen, Prozessen oder Zeiten.
In einem idealen Prozess der Konsensfindung dient die gewählte Konsensmethode nur noch zur Abfrage und Bestätigung der Lösung, die bereits gefunden wurde. Wenn bei der Konsensabfrage noch ein Veto kommt, ist im Prozess vorher etwas grundsätzlich schief gelaufen oder er wurde zu früh beendet.
Dieses Wohlwollen, das ehrliche Interesse aneinander, die Bereitschaft, sich mit seinen eigenen Strukturen (also Ängsten, Vorstellungen von Richtig und Falsch, Stress-Strategien etc.) auseinanderzusetzen, sich ehrlich zu zeigen und für sich einzustehen und genau diese Fähigkeiten auch an anderen wert zu schätzen, ist mehr als nur ein Regelwerk. Ich halte das für den Ansatz einer radikalen Kultur. Diese aufzubauen schafft viel Vertrauen, braucht aber auch Mut. Wenn ich den anderen vertrauen kann, dass sie mir ein grundsätzliches Wohlwollen entgegenbringen und dass sie wollen, dass es mir maximal gut geht und wenn sie bereit sind, mit mir eine Lösung zu finden, in der meine Bedürfnisse berücksichtigt werden, sind wir keine Gegenspieler*innen mehr, sondern Partner*innen mit einem gemeinsamen Ziel. Ich muss meine Wünsche nicht mehr mit Zähnen und Klauen verteidigen, weil ich sonst die*den Kürzeren *n ziehe. Ich kann darauf vertrauen, dass die anderen nicht über meine Bedürfnisse trampeln werden, schon allein, weil sie wissen, dass es langfristig dem Miteinander schaden wird.
So zu leben und sozial eingebunden zu sein ist für viele Menschen eine große und meist unerfüllte Sehnsucht. Sich darauf einzulassen ist deshalb mit großer Verletzlichkeit verbunden. Konsenskultur aufzubauen bedeutet zudem auch, eine solche Haltung und Kommunikationsweise auch gegenüber den anderen Beteiligten an den Tag zu legen. Auch das kann eine Herausforderung sein, weil unsere eigenen Unsicherheiten und Ängste oft mit dem Impuls verbunden sind, sich zu verteidigen und aus Angst vor Verletzungen in Konflikten nicht zu viel von den zugrundeliegenden Bedürfnissen zu zeigen, sondern stattdessen vermeintlich „objektiv“ und „sachlich“ zu behaupten, dass das, was wir uns wünschen, „das Richtige“ wäre.
Für die eigenen Bedürfnisse zu sorgen und einzustehen ist Arbeit am sozialen Gefüge, weil klar ist, dass Menschen, die „für andere“ zurückstecken, langfristig wahrscheinlich das soziale Gefüge oder die anderen für ihre Unzufriedenheit über die unerfüllten Bedürfnisse verantwortlich machen werden.
Manchmal können sich scheinbar konträre Positionen allein deshalb auflösen, weil alle Seiten sich gehört und wertgeschätzt fühlen und deshalb weniger das Gefühl haben, sich verteidigen zu müssen, um nicht „unterzugehen“. Sie können dann konstruktiv gemeinsam Möglichkeiten erschaffen, statt gegeneinander zu kämpfen.
Die beste Konsensmethode kann also nicht funktionieren ohne Konsensatmosphäre. Wie stellen wir sie her?
Für einen wirklichen Konsens unter Freien und Gleichwertigen zu finden, ist es notwendig, dass die Beteiligten sich sicher, willkommen, wertgeschätzt, respektiert fühlen. Auch die Angst vor sozialen Sanktionen macht Menschen unfrei. Wir alle können unser Bestes tun, um anderen diese Freiheit zu geben und haben das Recht, eine solche Haltung uns selbst gegenüber einzufordern.
Außerdem ist es sinnvoll und notwendig, Ungleichheiten, die ein hierarchisches Gefälle zur Folge haben, strukturell auszugleichen oder zumindest sichtbar und bewusst zu machen.
Zusammengehörigkeit und Solidarität über gemeinsame Feinde*innen herzustellen ist oft nötige Bündnispolitik. Diese schafft aber an sich noch kein tieferes Vertrauen und ist oft nicht in der Lage, langfristige Verbindungen und gesellschaftliche Veränderung zu schaffen.
Eine friedliche und gesellschaftlich tragfähige Struktur aufzubauen, funktioniert nicht, wenn diese nur dann tragfähig ist, solange sie Feinde*innen hat. Denn dann muss man irgendwann anfangen, Feinde*innen zu generieren, um weiterhin Verbundenheit zu schaffen.
Beispiele dafür gibt es genug. Oft schafft das Muster, sich durch Abgrenzung von anderen zusammengehörig zu fühlen, sogar eine unterschwellige Angst, selbst irgendwann zu „den Anderen“ gezählt zu werden, wenn man nicht in allen Teilen mit der Gruppe oder den lauteren Stimmen konform ist. Die Angst vor Ausschluss hält Menschen davon ab, sich in ihrer ganzen Vielfalt zu zeigen oder kritische Fragen zu stellen.
Langfristiges Zusammengehörigkeitsgefühl und Vertrauen stellt sich über Gemeinsamkeiten her. Auch die Bereitschaft zur Klärung von Konflikten wächst ungemein, wenn es über den Konflikt hinaus auch verbindende Elemente, Wertschätzung und Vertrauen gibt.
Diese Art von Kennenlernen dauert manchmal länger und ist u.U. mühsamer, besonders, weil viele von uns daran nicht gewöhnt sind. Die Übung besteht darin, nach möglichen Verbindungen statt Differenzen Ausschau zu halten, welche zu schaffen und mindestens ebenso viel Wertschätzung zu geben wie Kritik und Problemgespräche.
Verschiedene Menschen haben verschiedene Ansätze, Gemeinschaft herzustellen. Auch ist es wichtig zu erkennen, dass verschiedene Menschen verschieden geübt darin sind und das auf unterschiedliche Arten tun, was manchmal eine Extraportion Wohlwollen und Toleranz gegenüber Verhaltensweisen, die uns selbst seltsam vorkommen, erfordert.
Konsensatmosphäre zu zerstören ist einfach:
Eine abwertende Bemerkung oder eine ausschließende Handlung zerstört nicht nur die Vertrauensebene zu der Person, die von der Bemerkung getroffen ist, sondern schüchtert unter Umständen auch andere im Umkreis ein, die Angst haben ebenfalls zum Ziel zu werden. Wenn es Zeug*innen gibt, die nicht intervenieren oder emotionale Unterstützung anbieten, verstärkt sich der Effekt. Ein wirklicher Konsens, also eine Entscheidung, die ebenbürtig, frei und aufrichtig ausgehandelt wurde, ist so kaum noch möglich.
Konsens gelingt, wenn freie Menschen freie Entscheidungen treffen. Wer sich materiell, körperlich, strukturell oder emotional unsicher fühlt, ist in der Möglichkeit zur freien Entscheidung eingeschränkt. Alle von uns sind das in irgendeiner Weise. Diese Faktoren gilt es anzuerkennen und zu minimieren, damit Konsenskultur gelingen kann. Gleichzeitig gibt es selten eindeutige Oben-Unten-Strukturen und in vielen Konfliktfällen fühlen sich alle Beteiligten als Opfer und weniger mächtig als andere. Sie handeln aus einem Bedrohungsgefühl heraus. Oft fühlt sich keine*r der Beteiligten überlegen oder mächtig.
Eine Gefahr von Konsens und Kompromiss ist, beim kleinsten gemeinsamen Nenner stehenzubleiben, weil das sozusagen „ungefährlich“ ist. Das, was funktioniert, wird einfach wiederholt oder beibehalten, und man ist froh, dass man die aufregende und gefährliche Phase der Unsicherheit, des Sich-verletzlich-Machens und der potentiellen Konflikte hinter sich lassen kann.
Die Möglichkeit durch neue oder sich verändernde Bedürfnisse neue Diskussionen und Konflikte auszulösen und den Stress, den sie schafft, sowie die Angst zur Angriffsfläche von Missbilligung und „unbequem“ gefunden zu werden, hemmt Menschen, Prozesse anzustoßen. Oft spielen auch alle Beteiligten gleichzeitig beide Rollen; durch das Sicherheitsbedürfnis der einen und deren Festhalten an Bekanntem fühlen sich die anderen eingeengt, verursachen gleichzeitig durch „schnelles Vorpreschen“ ein Unsicherheitsgefühl bei ihnen, während sie in einer anderen Angelegenheit genau entgegengesetzt agieren können.
Konsens braucht Freiheit
Alle Beteiligten müssen die Möglichkeit haben, bei einer Nichtvereinbarkeit der Bedürfnisse getrennte Wege zu gehen. Im Idealfall werden sie dabei von den anderen wertschätzend unterstützt.
Auch das gehört zu den vielen Möglichkeiten von Konsens. Konsens ist auch die Kunst, einen weiten Blick zu eröffnen oder zu behalten und im Falle der Unvereinbarkeit getrennte Wege zu gehen.
Konsenskultur gelingt nur, wenn wir „einfach anfangen“. Statt darauf zu warten, dass die perfekte Gruppe, die richtigen Menschen, die perfekten Partner*innen vorbei kommen, mit denen es dann endlich funktioniert, die eigene Therapie abgeschlossen oder ein besserer Zeitpunkt da ist, getreu dem Motto „fake it’till you make it“ so viel zur Konsenskultur beizutragen, wie jede*r von uns kann. Es gibt viele Ansätze, um zu beginnen oder einen Schritt weiter zu gehen. Zum Beispiel sowohl davon auszugehen, dass es selbstverständlich ist, dass die eigenen Bedürfnisse wertgeschätzt werden, als auch anderen zuzuhören und ihnen zu signalisieren, dass man sie wertschätzt. Verbindlichkeit lernen und nach Anknüpfungspunkten statt Konfliktpotential suchen.
Andere ermuntern, zu sich zu stehen und jemandem mit anderer Meinung für die Diskussion danken. Eine Person, mit der es Konflikte gibt, zu einer Freizeitaktivität einladen oder ihr etwas vom Einkaufen mitbringen. Sich selbst verletzlich zeigen und dadurch Kontakt authentischer gestalten. Bedürftigkeit von anderen aushalten lernen, statt sich überfordert abzuwenden und auf eine Weise solidarisch sein, die den eigenen Möglichkeiten entspricht. Schönheit und Nahrung auf verschiedenen Ebenen beitragen, damit sich Menschen wohl und willkommen fühlen.
So zu leben, als wäre Konsenskultur schon selbstverständlich, so in Kontakt zu gehen und zu sein, wie wir uns selbst Kontakt wünschen trägt real dazu bei, dass konsensuelle Atmosphären, Begegnungen und Räume entstehen.
Dieser Artikel erschien auch in der Graswurzelrevolution bzw. im „Auswege“ Magazin.
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